Die Idee der Unsterblichkeit verdankt sich keiner weltüberfliegenden Spekulation, sondern einer intimen Vertrautheit mit der merkwürdigen Paradoxie unseres Geistes. Wie Sokrates sich auf den Tod vorbereitet und wie er schließlich stirbt, das ist, in der platonischen Darstellung im »Phaidon«, die Urszene dieser alten Metaphysik, die lange vor Christi Geburt schon triumphierend ausgerufen hat: »Tod, wo ist dein Stachel!« Unser körperliches Leben ist dem Tod geweiht und hat darum Angst. Der Gedanke, der Geist nun wagt die Wette gegen den Tod. Vermag ein todgeweihtes Leben allein aus der Kraft des Geistes in Würde zu Ende gelebt werden? Und mehr noch: Kann, von Geistes wegen, der Tod nicht nur ohne Angst in Kauf genommen werden, sogar gesucht werden? Das müsste dann aber ein Geist sein, der noch auf ganz andere Weise lebendig ist, als es das Leben je sein kann.
Die Geschichte vom Tod des Sokrates ist auch eine Experimentalanordnung: das Denken wird daraufhin geprüft, ob es das Leben so verwandeln kann, dass es ohne Angst und sogar im Triumph zu sterben vermag. Wohlgemerkt: sterben nicht in der Lust der Vernichtung, sondern in der Gewissheit eines lebendigen Seins, das stärker ist als der Tod und über diesen Tod hinausträgt.
Die alte Metaphysik vergewissert sich eines Geistes, den ich in mir finde, der mich aber so trägt, wie mich nur etwas tragen kann, das ich mir nicht selbst als Haltevorrichtung zurechtgemacht habe. Die alte Metaphysik vergewissert sich eines Geistes, von dem gilt: nicht ich habe ihn ausgedacht, sondern umgekehrt: er hat sich mich ausgedacht. Ich denke, weil ich bedacht worden bin. In meinem Denken nehme ich teil an einer Kraft, die mich denken lässt. Und das gibt mir eine Lebendigkeit, die dem Tode trotzt – mit Gelassenheit, nicht mit Aufbäumen. [...]
Dass eine philosophische Gesinnung helfen kann, getrost zu sterben, davon sind auch sie überzeugt, aber Sokrates radikalisiert seine Position: »Diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne dass es freilich die anderen merken, nach gar nichts anderem streben als nur zu sterben und tot zu sein.« [...]
Sokrates argumentiert mit dem Ethos der Philosophie: recht betrieben, bereite sie nicht nur aufs Sterben vor, sondern sei bereits ein Akt des Sterbens im Leben.
Nietzsche wollte in dieser Argumentationsfigur die ganze Schwächlichkeit, den lebensmüden Defensivgeist der alten Metaphysik aufdecken. Diese Metaphysik empfehle, so Nietzsche, gegen das Sterben am Ende unserer Lebensfrist das vorfristige Sterben. Damit vom schließlichen Tode möglichst wenig Lebendiges betroffen wird, fängt man am besten schon damit an, hinzuschwinden, abzusterben: dem Tod, wenn er dann wirklich eintritt, bleibt so nur noch wenig zu tun. [...]
Deshalb versucht Sokrates ihnen begreiflich zu machen, dass das philosophische »Sterben« nicht eine Verminderung, sondern eine Steigerung der Lebendigkeit bedeute. Das kann er aber nur, indem er zunächst auf die damals konventionell-religiöse Auffassung zurückgreift, wonach der Tod kein absolutes Ende des individuellen Lebens bedeutet, sondern lediglich eine Trennung zweier Substanzen: des Körpers von der Seele. Der Körper ist das Sterbende.
Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? - Rüdiger Safranski